Lehr­plan 21 – und jetzt?

Aesch, 26.10.2018 | Der viel­dis­ku­tier­te Lehr­plan 21 ist in fast allen Kan­to­nen defi­ni­tiv beschlos­sen und für den Volks­schul-Unter­richt in Kraft. Was bedeu­tet der neue Lehr­plan für die Stein­erschu­len? Er ist eine Chance.

Wäh­rend Jah­ren wur­de über den Lehr­plan 21 dis­ku­tiert, ja erbit­tert gestrit­ten. Doch jetzt ist die Zeit des Pro und Kon­tras vor­bei, der Lehr­plan 21 ist Rea­li­tät – in den Vor­schrif­ten für die staat­li­chen Volks­schu­len und zuneh­mend auch in der Schul­pra­xis. Und er ist auch in den Medi­en prä­sent : «Musi­zie­ren statt Mathe büf­feln », titel­te kürz­lich der Bund. Oder «Zür­cher Schü­ler wer­den jetzt con­nec­ted » schrieb der Tages­an­zei­ger über ein neu­es Lehr­mit­tel für das Lehr­plan-Modul «Medi­en und Infor­ma­tik ». Und die Wochen­zei­tung : «Mehr Lek­tio­nen und weni­ger Haus­auf­ga­ben mit dem Lehr­plan 21 ».

Kein Wun­der, wol­len auch Stein­erschul-Eltern wis­sen, was der Lehr­plan 21 und ergän­zen­de kan­to­na­le Vor­schrif­ten für ihre Kin­der bedeu­ten. Und zuwei­len wird auch schon an Stein­erschu­len von Eltern ein­ge­for­dert, was der Lehr­plan 21 an posi­tiv emp­fun­de­nen Ände­run­gen ver­spricht : z. B. zeit­ge­mäs­ser Infor­ma­tik-Unter­richt oder wirk­sa­me­rer (Früh-)Fremdsprachen-Unterricht.

Nur schon des­halb ist es zwin­gend, dass sich die Stein­erschu­len, ihre Kol­le­gi­en und die ein­zel­nen Lehr­per­so­nen ver­tieft mit den kon­kre­ten Inhal­ten des Lehr­plan 21 aus­ein­an­der­set­zen. Dazu gilt es in einem ers­ten Schritt, Abwehr­re­fle­xe gegen befürch­te­te Ein­grif­fe in die päd­ago­gi­sche Frei­heit und bis­her gepfleg­te Erzie­hungs­kunst zu über­win­den und vom bis­he­ri­gen Pro und Kon­tra weg­zu­kom­men, – um sich offen auf den Lehr­plan 21 einzulassen.

Mich per­sön­lich hat der ers­te kon­kre­te Ein­druck, den ich anläss­lich einer Info-Ver­an­stal­tung für Bil­dungs­po­li­ti­ker erhielt, ver­blüfft : Die Mathe­ma­tik-Auf­ga­ben für Viert­kläss­ler, die ein Dozent einer päd­ago­gi­schen Hoch­schu­le vor­stell­te, ähnel­ten dem Stein­erschul-Unter­richt mei­ner Kin­der viel mehr als mei­nen eige­nen Staats­schul-Erfah­run­gen – nicht nur frü­her als Kind, son­dern auch durch aktu­el­le Ein­bli­cke ins öffent­li­che Schulwesen.

In einem zwei­ten Arbeits­schritt ist ganz prag­ma­tisch klassen‑, stu­fen- und fach­be­zo­gen zu prü­fen, ob, wie und wann die im staat­li­chen Lehr­plan gefor­der­ten Kom­pe­ten­zen auch mit einem Schul­un­ter­richt auf der Basis der Päd­ago­gik Rudolf Stei­ners erreicht wer­den. Das for­dern nicht nur Schul­ge­set­ze und Schul­be­hör­den, nein : Die Stein­erschu­len sind es viel­mehr pri­mär ihren Schü­le­rin­nen und Schü­lern schul­dig, dass die­se nach Schul­ab­schluss guten Anschluss an wei­ter­füh­ren­de Aus­bil­dun­gen fin­den. Denn Mit­tel- und Hoch­schu­len wer­den künf­tig auf Vor­bil­dun­gen gemäss Lehr­plan 21 auf­bau­en, und Berufs­schu­len haben des­sen Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung ohne­hin längst vorweggenommen.

Ich bin über­zeugt, dass der ent­wick­lungs­ori­en­tier­te Stein­erschul-Unter­richt den Abgleich mit den Zie­len des Lehr­plan 21 nicht zu scheu­en braucht.
Dar­in hat mich ein Aus­tauscha­bend bestärkt, zu dem im Früh­jahr das Kol­le­gi­um der Rudolf Stei­ner Schu­le Bern Itti­gen Lang­nau ein­ge­la­den hat­te. Mit dabei waren auch an Staats­schu­len täti­ge Schul­eltern. Deren Feed­back, genährt aus beruf­li­chen Wei­ter­bil­dun­gen und ers­ten Erfah­run­gen in der Umset­zung des Lehr­plan 21, mach­te mir aber auch klar : Eine gründ­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Lehr­plan 21 ist für die Stein­erschu­len auch eine dop­pel­te Chan­ce – ers­tens zur Wei­ter­ent­wick­lung der eige­nen Unter­richts­pra­xis, ins­be­son­de­re auch in metho­disch-didak­ti­schen Belan­gen, und zwei­tens zur Klä­rung und Schär­fung des eige­nen päd­ago­gi­schen Profils.

Für bei­des wird es viel Denk­ar­beit, Gesprächs­be­reit­schaft und Ver­stän­di­gungs­kraft brau­chen. Wie gross der Frei­raum zur päd­ago­gi­schen Wei­ter­ent­wick­lung inner­halb der welt­wei­ten Stein­erschul­be­we­gung ist, zeigt ein Bei­spiel aus Den Haag. An der Vri­je School in gibt es Inter­net-Zugang in allen Schul­zim­mern, «Klas­sen-Apps » für Fünft- und Sechst­kläss­ler sowie geziel­tes Auf­ga­ben­lö­sen per Smart­phones sind kei­ne Tabus mehr. Doch auch so darf sich die­se Schu­le wei­ter­hin Wal­dorf- bzw. Stein­erschu­le nennen.

Aber kei­ne Sor­ge : Mit die­sem Hin­weis soll nicht einer Com­pu­te­ri­sie­rung der Stein­erschu­len das Wort gere­det wer­den – und auch nicht einer unre­flek­tier­ten Über­nah­me von com­pu­ter­be­zo­ge­nen Inhal­ten des Lehr­plan-21-Moduls «Medi­en und Infor­ma­tik ». Aber im Hin­blick auf die revo­lu­tio­nä­ren Ver­än­de­run­gen, die im Zuge der Digi­ta­li­sie­rung in der Berufs- und Lebens­welt im Gan­ge sind, müs­sen Tra­di­tio­nen über­prüft und viel­leicht auch neue Ant­wor­ten gefun­den wer­den. Zugleich ist jedoch an den Stein­erschu­len zu bewah­ren, ja noch zu stär­ken, was in Zukunft immer wich­ti­ger wer­den dürf­te : die För­de­rung von Krea­ti­vi­tät, kri­ti­schem Den­ken, Eigen­in­itia­ti­ve, Fähig­keit zur Zusam­men­ar­beit, Empa­thie, Rück­sicht auf Mensch und Umwelt.

Sol­ches Über­prü­fen und Schär­fen des eige­nen Pro­fils braucht Zeit. Eine Stein­erschu­le, die sich auf die­sen Weg der Schul­ent­wick­lung macht, kann in einem drit­ten Schritt im Wort­sin­ne selbst­be­wusst auf­tre­ten und über­zeu­gen : bei­spiels­wei­se dann, wenn pau­scha­le For­de­run­gen nach Anpas­sung oder gar Anglei­chung an den Lehr­plan 21 erho­ben wer­den. Die Stein­erschul­be­we­gung kann sich dabei auf die Pri­vat­schul­frei­heit beru­fen, die in Bun­des- und Kan­tons­ver­fas­sun­gen garan­tiert ist. Es gilt weit­ge­hen­de Lehrplan‑, Lehr­mit­tel- und Metho­den­frei­heit, wie ein Rechts­gut­ach­ten von 2006 noch heu­te gül­tig nach­weist : Die renom­mier­ten Juris­ten Tobi­as Jaag und Mar­kus Rüss­li haben damals fest­ge­hal­ten, dass nicht­staat­li­che Schu­len kraft Ver­fas­sun­gen und Geset­zen einen «mass­ge­ben­den Gestal­tungs­spiel­raum » bei der Aus­ge­stal­tung ihrer Lehr­plä­ne wie auch ihrer Lehr­mit­tel haben müssen.

In ihrer Stel­lung­nah­me zum Lehr­plan-21-Ent­wurf von 2013 haben die Arbeits­ge­mein­schaft der Schwei­zer Stein­erschu­len (ARGE) und ande­re Pri­vat­schu­len das «Recht auf Ent­wick­lung eige­ner Lehr­plä­ne und Lehr­mit­tel und die Metho­den­frei­heit der Lehr­per­so­nen » betont. Und sie haben den Stand­punkt ver­tre­ten, dass die gefor­der­ten Grund­kom­pe­ten­zen erst am Ende der obli­ga­to­ri­schen Schul­zeit erreicht wer­den müs­sen – und nicht schon in bestimm­ten frü­he­ren Schul­jah­ren. Die­se Vor­be­hal­te haben Ein­gang in den Aus­wer­tungs­be­richt der Deutsch­schwei­zer Erzie­hungs­di­rek­to­ren-Kon­fe­renz (EDK) gefun­den und sind weder dar­in noch spä­ter jemals bestrit­ten worden.

Die Stein­erschu­len kön­nen sich also auf die bis­he­ri­gen Frei­räu­me und Frei­hei­ten beru­fen, wenn sie die Zie­le der obli­ga­to­ri­schen Schul­zeit auf ande­ren päd­ago­gi­schen Wegen und in ande­rem Tem­po errei­chen (kön­nen) wol­len. Dass der Lehr­plan 21 ins­be­son­de­re nichts an der Metho­den­frei­heit ändert, ist von mass­ge­ben­den Behör­den bis­her stets beteu­ert wor­den und in grund­le­gen­den EDK-Doku­men­ten nach­zu­le­sen – und zwar im Hin­blick auf alle Lehr­per­so­nen. Was die EDK dies­be­züg­lich für die Staats­schu­len ver­spro­chen hat, muss erst recht für die Stein­erschu­len gel­ten : Punk­to «Aus­wahl der Unter­richts­in­hal­te, metho­di­sche Unter­richts­ge­stal­tung und zeit­li­che Frei­räu­me » schrän­ke der Lehr­plan 21 «die Lehr­per­so­nen nicht stär­ker ein, als dies bereits heu­ti­ge Lehr­plä­ne tun. Die Metho­den­frei­heit bleibt gewahrt. »

Was die­se Metho­den­frei­heit kon­kret bedeu­tet, müs­sen die ein­zel­nen Stein­erschu­len direkt mit den Schul­be­hör­den ihres jewei­li­gen Kan­tons klä­ren. Denn die ein­zel­nen Kan­to­ne sind zustän­dig für die Rege­lung der obli­ga­to­ri­schen Schul­zeit. Sie haben den Lehr­plan 21 mit eige­nen Vor­ga­ben ergänzt und schon bis­her (unter­schied­li­che) Rah­men­be­din­gun­gen für Pri­vat­schu­len abge­steckt. Aus Stein­erschul-Sicht gilt es nun, die bis­he­ri­gen Frei­räu­me für die eige­ne Päd­ago­gik zu sichern. Um die Stein­erschu­len in den Bemü­hun­gen und Ver­hand­lun­gen mit kan­to­na­len Behör­den zu unter­stüt­zen, hat sich die ARGE zum Ziel gesetzt, kan­tons­über­grei­fen­de Grund­la­gen zu erar­bei­ten. Eini­ge Schu­len sind bereits im Gespräch mit den kan­to­na­len Behör­den. Im Kan­ton Bern zum Bei­spiel haben die­se den Stein­erschu­len mehr Zeit zuge­stan­den : Erst im Som­mer 2022 muss dort klar sein, was der Lehr­plan 21 für die ber­ni­schen Stein­erschu­len kon­kret bedeutet.

Über den Autor: Bru­no Vano­ni (1959) ist Co-Prä­si­dent der Rudolf Stei­ner Schu­le Bern Itti­gen Lang­nau, Mit­glied des Gros­sen Rats und der Bil­dungs­kom­mis­si­on im Kan­ton Bern.

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